Fernsehvergnügen

Seit über 20 Jahren haben wir keinen an eine Antenne angeschlossenen Fernseher mehr und vermissen nichts. Wir schauen durchaus Filme, und sehr gerne, aber immer nur selbst ausgesuchte und gekaufte DVDs. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, ein Filmprogramm anzusehen, das jemand anders für einen ausgewählt hat.

Obwohl ich zufrieden bin mit Art und Umfang unseres Konsums, haben wir in den letzten zwei Wochen das Selbstexperiment eines Netflix – Abos unternommen. Hauptsächlich, weil ich “Maestro”, eine neuen Spielfilm über Leonard Bernstein, sehen wollte, der wohl wie andere Netflix – Produktionen nie auf DVD erscheinen wird. Und dann hört man immer, dass man so wunderbar Zeit verplempern und entspannen kann mit gestreamten Serien. Nach den Anstrengungen der letzten Wochen wollte ich mir was Gutes tun und einfach mal hemmungslos in den Ferien alles anschauen, was ich in den letzten Jahren verpasst habe.

“Maestro” habe ich trotz der Länge zwei Mal angeschaut, weil Bradley Cooper Bernstein erstaunlich ähnlich sieht, selbst beim Dirigieren, und ich es sehr bedaure, den sagenhaften Dirigenten nie live erlebt zu haben. Allerdings war mir zu wenig Mahler im Film, weshalb ich einen guten Teil der Ferien damit verbracht habe, auf dem Sofa liegend Bernsteins Aufnahme der 6. und 7. Symphonien zu hören. Während das bezahlte Abo ungenutzt weiterlief, was die sparsame Schwäbin in mir leicht nervös werden liess. Also genug mit Uralt – CDs! Runter vom Sofa! Rauf aufs andere Sofa und endlich mal das hochgelobte “Emily in Paris” angeschaut! Zugegeben, es ist ein hübscher kleiner Ausflug nach Paris. Man sieht die Brücken und nachts beleuchteten Strassenzüge aus ungewohnten Perspektiven aus der Höhe, und mir gefällt es wirklich, wie alle immer zu Fuss unterwegs sind über Kopfsteinpflaster und ich spähen konnte, ob mir der Strassenname was sagt. Aber die Handlung? Der Lebensinhalt (Emily arbeitet in einer Agentur, die Luxusmarken vertritt…)? Die Dialoge? Ich war nach viel zu wenig Folgen wieder draussen.

Jetzt tyrannisierte ich den Gatten. Keine eigenen DVDs mehr für die nächsten drei Wochen, meine dreizehn Euro müssten sich schliesslich amortisieren! Wir schauten mit viel Freude einen Spielfilm über Enrico Piaggio, den Vater der Vespa, auf italienisch an. Tolle Schauspieler, wunderbare Umgebung, Italien mit den Augen von Italienern gesehen und eine erstaunlich packende Handlung, obwohl es ja hauptsächlich um den Aufbruchsgeist der Nachkriegsjahre geht. Aber heroische Themen greifen doch immer. Die Neuverfilmung von “Rebecca” fand ich auch sehr fesselnd, vor allem, weil die zweite Mrs de Winter so stark und aktiv dargestellt wurde. Und Kristin Scott Thomas ist die gruseligste Mrs Danvers, die man sich nur vorstellen kann. Der beste Spielfilm war jedoch der über Richterin Ruth Bader-Ginsburg, “Die Berufung”. Sowohl der Gatte als auch ich klebten am Bildschirm, was wir gar nicht erwartet hatten bei der Thematik und den erwartet vielen Fallzitaten und Hinweisen auf Verfassung und Gesetzgebung. Felicity Jones liess die Ikone des Frauenrechts auf eindringliche Weise lebendig werden. Man konnte einfach nicht wegschauen, selbst, wenn sie nur Akten und Notizen wälzte. Doch nach diesem vielversprechenden Beginn ging es abwärts. Wir versuchten zwei unbefriedigende Italienfilme, einer zu klischeehaft, der andere mit einem so unbeteiligten Blickwinkel, dass er auch in Timbuktu hätte spielen können. Ich suchte nach Filmen mit Tom Hanks oder Diane Keaton. Man könnte annehmen, dass diese seit Jahrzehnten unermüdlich beschäftigten Schauspieler mit einer gewissen Auswahl vertreten wäre, aber es gibt aktuell von jedem genau einen Film im Streamingangebot. Den mit Diane Keaton probierte ich, weil ich sie liebe, aber er war leider unerträglich: zaunrackendürre Frauen, die ständig Tobsuchtsanfälle bekommen, krampfhaft ausgeführte amerikanische “Traditionen”, denen viel zu viel Bedeutung zugemessen wird wie das Brautstrausswerfen, noch mehr Klischees als im Toskanafilm. Ich hielt 40 Minuten aus. Obwohl ich dafür bezahlt hatte!

Immerhin fand der Gatte eine bluttriefende amerikanische Krimiserie, die ihm eine seltsame Art von Freude bereitet. Ich kann so was nicht anschauen. Meistens haben wir irgendeinen vorgeschlagenen Film ausprobiert, aufgegeben und dann hat er diese Serie angeschaut und ich bin mit einem Buch ins Bett. Am ersten Tag dachte ich noch: toll, jetzt hab ich das Abo und liege lesend im Bett wie immer. Wo bleibt das suchterzeugende Element, vor dem ich gewarnt wurde?!

Es stellte sich heraus: die Sucht, das sind die Bücher. Das, wohin man immer zurückkehrt, sich wohl fühlt, sich wirklich entspannen kann am Abend, ist für mich und uns nicht die Flimmerkiste. An einem regnerischen Ferientag waren wir zusammen in München und haben lange in der ausgefallenen Buchhandlung “Literatur Moths” am Isartor gestöbert. Ich kaufte “Allein” von Daniel Schreiber, der Gatte “Hitler, Stalin, meine Eltern und ich” von Daniel Finkelstein. Wieder zuhause, begannen wir mit unseren abendlichen Bechern Tee gleich zu lesen, ich wie immer auf dem Sofa, der Gatte am Esstisch. Eine Kerze brannte, es regnete immer noch und ich fühlte mich wohl und geborgen. Bis mir auf einmal einfiel: das Streaming – Abo!! Die Kohle rieselt nur so durch, und keiner nutzt es! Mir tat es kein bisschen weh, dass der Gatte und ich grade siebzig Euro für gebundene Bücher ausgegeben hatten. Die dreizehn, die ich einem Giganten in den Rachen geworfen habe, bereue ich. Aber plötzlich war ich entspannt. Warum sich das antun, wenn man kaum Genuss und Freude dabei hat? Das Leben ist zu kurz, um Filme zu streamen, die man eigentlich gar nicht sehen will. Wir sind ein bisschen wie Robert Seethalers Held Egger aus “Ein ganzes Leben”: “Zum Beispiel konnte er kaum das Beharrungsvermögen aufbringen, mit dem die meisten anderen Menschen stundenlang in das Flimmern hineinstarrten, von dem er insgeheim annahm, es könne einem auf Dauer das Augenlicht trüben und das Hirn aufweichen.” (S. 123)

Dabei wäre ich doch so gern begeistert von den Erscheinungen der Gegenwart! Ich finde es eigentlich schade, wenn ich immer wieder auf das zurückgeworfen werde, was schon Jahrhunderte lang funktioniert hat. Ich wäre so gern aufgeschlossen und modern und überzeugter Unterstützer aller möglichen digitalen Errungenschaften! Dann müsste ich auch nicht solche Artikel schreiben, die mich einmal mehr in die Dinosaurierecke stellen! Ich habe festgestellt, dass es Leute gibt, die drei oder vier Streamingabos haben. Und die auch nutzen. Wie macht man das nur?

Im Moment schimmelt das bereits gekündigte Abo unbeschäftigt vor sich hin. Noch zwei Wochen hätten wir die Möglichkeit, uns von den Vorteilen überzeugen zu lassen. Hat jemand vielleicht Vorschläge?

Atemberaubende Hortensien: aus dem Garten meiner Freundin Barbara

Dürfen Frauen komponieren?

Unsere gelungene Aufführung von “Am Klavier mit Fanny Hensel” ist noch nicht lange genug her, als dass ich darüber schreiben könnte. Nur eins weiss ich: ich bin mal wieder überwältigt von der Leistungsbereitschaft und dem Engagement meiner Klavierschülerinnen und ihrem Mut, in der gut besetzten Aula und vor der Schulleitung zu spielen. Meine Mädchen werden wirklich abgehärtet, und Klavierspielen ist für sie langsam so normal wie Sprechen. Alle meine Schülerinnen waren dabei, die jüngsten, die ängstlichsten, die Aushängeschilder, und alle haben ihre Sache gut gemacht. Vielleicht hat es geholfen, dass sie auch schauspielen durften und in eine andere Rolle schlüpfen konnten? Hier zwei Ausschnitte aus unserem Stück, um einen Eindruck zu bekommen, wie viel Spass wir hatten. Das hier war die Stelle, die meine Kollegin “den nötigen comic relief” nannte, inspiriert durch zwei Schüler, die ständig das Kufsteinlied singen… Immerhin haben die jungen Herren wirklich gute Stimmen und haben schon dafür viel Applaus bekommen:

Fanny: „Maximilian, was für eine Freude! Herzlich willkommen!“

Maximilian: „Die Freude ist ganz auf meiner Seite, liebe Fanny. Meinen herzlichsten Glückwunsch zum Geburtstag! Und den will ich auch musikalisch darbringen!“

Stellt sich in Position und möchte anfangen, Akkordeon zu spielen, wird aber von Wilhelm gestoppt:

Wilhelm: „Wart mal kurz. Hab ich dir gesagt, dass heute nur Musik von Frauen gespielt wird?“

Maximilian: „Was ist denn jetzt los? Musik von Frauen?“

Wilhelm: „Ja, Fanny will das so. Zum Ausgleich, weil jahrhundertelang nur Musik von Männern gespielt wurde.“

Maximilian: „Sacklzement, ja was is denn das… „

Wilhelm: „Die regt sich schon wieder ab. Aber heute ist es so.“

Maximilian: „Aber dann haben wir ein echtes Problem. Wir wollten doch unser Lied singen!“ Wilhelm nickt. „Und ich bin den ganzen Weg von Bayern gekommen!“

Wilhelm: „Ich weiss, ich weiss. Wir müssen uns was einfallen lassen.“ Sie schauen sich an. Wilhelm kommt eine Idee: „Du, das Kufsteinlied, das ist doch ein Volkslied. Das gibt’s schon immer. Man weiss nicht wirklich, wer’s geschrieben hat, oder?“ Maximilian schüttelt den Kopf. „Vielleicht hat’s ja eine Frau geschrieben?“ Maximilian runzelt die Stirn.

Maximilian: „Das nimmt uns die Fanny nicht ab, da ist sie selber zu schlau.“ Wilhelm schaut ihn an:

Wilhelm: „Lass mich mal.“ Zu Fanny und den Kindern: „Jetzt gibt‘s eine besondere Überraschung. Unser Gast aus Bayern hat ein Lied aus Tirol mitgebracht, geschrieben von Anonym. Oder seiner Schwester.“

Fanny: „Anonym? Oder seine Schwester?“ Wilhelm und Maximilian nicken heftig. Fanny guckt sie zweifelnd an: „Ich find’s nicht nett, dass ihr mich an meinem Geburtstag auf den Arm nehmt.“

Wilhelm: „Ich bin sicher, der Anonymus hatte eine Schwester, die ihm manchmal geholfen hat. Schau, Du und Felix… Nannerl und Mozart…“

Fanny: „Jetzt komm mir noch mit Shakespeare und seiner Schwester… In Ordnung, dann nehmen wir mal an, dass es eine Anonyma war. Legt los!“

“Dürfen Frauen komponieren?” Für Fanny Hensel war das keine echte Frage, sie tat es einfach. Weil sie nicht anders konnte. Dennoch habe ich die Überlegung in mein Theaterstück eingebaut, wegen Gedankenanschubs und allgemeiner Erziehung meiner Schülerinnen, und um uns Diskussionsstoff zu liefern. Es ist immer ganz eigen, wenn die Worte, die man selbst geschrieben hat, auf einmal auf der Bühne lebendig werden und durch die Persönlichkeit der Schauspielerinnen noch mal eine andere, tiefere Bedeutung bekommen. Manchmal sitzt man nur ungläubig da und staunt, so seltsam das jetzt klingt. Für diese lange Szene zwischen Fanny und Clara Schumann hatten meine Kollegin und ich die beiden Mädchen zu einer Extraprobe bestellt und grosszügig Zeit eingeplant, weil es die zentrale Frage des Stücks ist. Doch wir waren im Nu fertig. Die beiden sagten zu Beginn, dass sie schon zusammen geprobt und sich was überlegt hätten. Sie spielten es wunderbar und überzeugend, und das Ende, die letzten Sätze von Clara, haben uns schon in der ersten Version, die dann auch die letzte blieb, umgeblasen. Unsere zierliche, kleine Clara nahm Fanny an der Hand, stellte sich ganz vorn an die Rampe und sprach mit so viel Selbstbewusstsein und Stärke, dass ich mir um die Zukunft der weiblichen Jugend überhaupt keine Sorgen mehr mache. Hier der Text:

Fanny: „Meinst du, es ist wichtig, was man in der Nacht vor seinem Geburtstag träumt?“

Clara: „Wenn es schön ist, auf jeden Fall!“

Fanny: „Es war schön, wunderschön. Ich bin mit so viel Hoffnung erwacht. Ich weiss nicht, wie ich es beschreiben soll – ich war in irgendeinem seltsamen Zwischenland. In einer anderen Zeit, und die Menschen, die ich getroffen habe, waren nicht wie wir. Eher wie Geister. Gute Geister. Ich glaube, manche konnten sogar fliegen. Ich fühlte mich auch leicht. Alles war voll Musik, wunderbare und ungewöhnliche Musik, wie ich sie noch nie gehört habe. Und es war alles Musik von Frauen. Niemand hat mit mir gesprochen, aber ich habe verstanden, dass eine Zeit kommen wird, in der es völlig normal ist, dass Frauen auch als Komponistinnen in Erscheinung treten werden. Da war zum Beispiel eine Dame in einem prächtigen fliederfarbenen Seidenkleid, reich geschmückt und mit Edelsteinen um den Hals. Sie spielte ein delikates kleines Stück, und während es ertönte, vermeinte ich, Veilchenduft zu riechen.“

Musik: Dora Pejacevic, Das Veilchen

Fanny: „Und dann war da eine andere, ebenso aussergewöhnlich gekleidet, aber noch mal anders. Eher nach französischer Manier, weisst du. Und sie spielte ein zauberhaftes Stück mit der Melodie in der linken Hand, das ich mir gut im Klavierunterricht vorstellen könnte.

Musik: Cécile Chaminade, Pièce romantique

Fanny: “Ich konnte nicht reden mit diesen Frauen, doch ich habe gesehen, dass Frauen komponieren können. Und dürfen.“

Clara: „Das ist in der Tat ein wunderschöner Traum. Ich wünschte, wir würden noch erleben, dass er Wirklichkeit wird.“ Sie schauen sich an.

Fanny: leiser „Ich fürchte, es wird noch dauern. Unsere Kinder werden es wohl noch nicht erleben. Unsere Enkel?“

Clara schaut zweifelnd:

Clara: „Ich weiss nicht, ob die Welt schon bereit dafür ist. Vielleicht wird es noch länger dauern. Aber, wie du weisst, die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Lass uns dranbleiben, egal was die Welt sagt! Lass uns weiter unsere Stücke schreiben, wenn wir Lust darauf haben, und lass uns die Mädchen so erziehen, dass das Komponieren für sie etwas Normales ist!“

Die beiden hielten sich an der Hand, Schulter an Schulter, schauten frontal in den Saal und strahlten so viel Kraft und Stärke aus, dass mir meine Kollegin zuwisperte: “Und jetzt stimmen sie noch die Marseillaise an!” Das war einer der wirklich erhebenden Momente im Stück. Ich hoffe, dass er den Jüngeren genau so im Gedächtnis bleiben wird wie mir.

Ein anderer, viel zarterer Moment wurde von vielen Zuhörerinnen erwähnt, und das freut mich, weil er mich auch in der Seele berührt hat. Am Anfang und am Ende erklang Fannys melancholische Mélodie cis-moll op. 2/4, und dazu erschien ein Portrait von ihr auf der Wand, während der Rest der Bühne in dunkelblaues Traumlicht gehüllt war. Zu Beginn der Aufführung war meine Reaktion auf ihren lieben Blick nur ein stossgebetartiges “Fanny, steh uns bei!”. Doch am Ende, als das mucksmäuschenstille Publikum sich das Klavierstück zum zweiten Mal anhörte, wurde mir ganz eigentümlich. Wir hatten Fanny für 70 Minuten wieder lebendig gemacht und uns über ihre wunderbare Musik gefreut. Sie war wirklich da gewesen, in unserer prosaischen modernen Aula. Wir sind mit ihr in Verbindung getreten und haben ihren guten Geist heraufbeschworen. Wie seltsam. Danach sagten mir zwei Zuhörerinnen, dass sie am Schluss, als Fannys Portrait wieder erschien, geweint haben. Was gibt es besseres, als sein Publikum wirklich zu berühren?

Trotzdem klang der Abend ausgelassen aus. Es gab bei der Geburtstagsfeier eine Tanzszene, und ich hatte schon damit gerechnet, dass wir die wiederholen dürfen. Guerillamässig wollte ich meine älteren Schüler dazu anstiften, dann unsere Schulleiterin aufzufordern, aber die Burschen sagten voll Überzeugung, dass sie nicht tanzen würde. Pustekuchen – sie schnappte sich das Mikrophon, bat uns noch mal um den Walzer und forderte die Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises, die auch gekommen war, zum Walzer auf. Dass wir das noch erleben! Ich tanzte mit der neunjährigen Tochter meiner Freundin, meine Schülerinnen tanzen ohnehin immer und zu allem, und viele Eltern walzten durch die Aula. Und während wir versuchten, uns nicht anzurempeln und einen riesigen Spass hatten, schaute ich noch mal hoch zu Fannys Bild und dachte: liebe Fanny. Schön, dass es dich gibt.

“Am Klavier mit Fanny Hensel”

(Begrüssung für die erste Aufführung unseres Theaterstücks. Herzliche Einladung! 18. März 2024, 19 Uhr, Aula des Korbinian-Aigner-Gymnasiums Erding)

Fanny: eine Frau, die viel vorhat!

Als ich anfing, mich für dieses Projekt mit Fanny Hensel zu beschäftigen, stellte ich fest, dass sie am gleichen Tag wie meine Oma Geburtstag hat: am 14. November. Das wollte ich feiern! Deshalb beschloss ich, das Theaterstück an Fannys 33. Geburtstag spielen zu lassen. Das Jahr 1838 wählte ich, weil Fanny damals eine sehr glückliche Zeit in ihrem Leben erreicht hatte: sie war mit dem Mann, in den sie sich mit 17 Jahren verliebt hatte, verheiratet. Er unterstützte ihr Komponieren voll und ganz und war ihr auch sonst ein verlässlicher Gefährte. Beide liebten Italien und sollten kurz danach ein ganzes Jahr in Rom leben, zusammen mit ihrem einzigen Sohn Sebastian, der zum 10. Geburtstag mit ihnen auf den Vesuv steigen durfte. Das junge Ehepaar wohnte in Berlin im sogenannten Gartenhaus im Palais von Fannys Eltern. „Gartenhaus“ klingt bescheidener, als es war: die geräumige Dependance des elterlichen Anwesens bot genug Platz für Wohnräume, Wilhelms Atelier und Fannys Musikzimmer und blickte zudem in den parkähnlichen grossen Garten. 1838 waren sowohl Fanny als auch ihr Mann künstlerisch erfolgreich und mit verschiedenen wichtigen Projekten beschäftigt. Wilhelms Portraits waren begehrt – der preussische König und die englische Königin Victoria zählten zu seinen Auftraggebern. Fanny hatte 1831 die „Sonntagsmusiken“ im Gartensaal der Eltern wieder eingeführt. Der Saal bot Platz für bis zu 300 Zuhörer, und Fannys Konzerte zogen Kenner und Liebhaber von nah und fern an. Clara und Robert Schumann sassen ebenso im Publikum wie Franz Liszt oder eine Reihe von königlichen Hoheiten. Dieser halbprivate, nicht kommerzielle Rahmen war für eine Frau von Fannys Stand die einzige Möglichkeit, als Musikerin und Dirigentin aufzutreten. Sie haderte nicht mit ihrem Schicksal, sondern machte buchstäblich das Beste daraus, indem sie zum Beispiel Felix‘ monumentales Oratorium „Paulus“ hier aufführte und selbst dirigierte.

Wenn man Francoise Tillards hervorragende Biographie von Fanny liest, bekommt man den Eindruck, dass sie zu jeder Lebensphase eine vielbeschäftigte Frau war. In der Familie Mendelssohn war es üblich, zu Geburtstagen und anderen Familienfesten selbst etwas zu dichten und den Text auch zu vertonen. Allein diese Überraschungen nahmen einige Zeit in Anspruch. Neben dem Musizieren und Dirigieren war Fanny ihr ganzes kurzes Leben lang als Komponistin aktiv und äusserst produktiv. Ausserdem schrieben sich die Menschen damals viele und lange Briefe, aus denen wir auch heute noch viel über ihr Leben erfahren. Fanny hatte ständig zu tun – und genau so wollte ich sie heute auch darstellen, als eine vielseitige, an allem interessierte Frau, aus der die kreativen Ideen ständig heraussprudeln.

Obwohl Fanny Hensel heute im Mittelpunkt des heutigen Abends steht, werden wir leider nur zwei Stücke von ihr hören. Das liegt ganz einfach daran, dass es kaum wirklich leichte Klavierkompositionen von ihr gibt. Fanny war eine exzellente Pianistin, die auch selbst in Konzerten auftrat. Die meisten ihrer Klavierwerke liegen ausserhalb der Reichweite von angehenden Pianistinnen. Die zarte, melancholische „Mélodie“ cis-moll, die unseren Abend eröffnen wird, ist in unserer Literaturliste für die 12. Klasse vorgesehen (auch wenn sie von Sophie aus der 9. Klasse gespielt werden wird), das erste der „Vier römischen Klavierstücke“, das Paula spielen wird, sogar erst in der 13. Klasse. Für die Jüngeren war einfach nichts von Fanny dabei, deshalb habe ich das Spektrum erweitert: Fannys Zeitgenossin und Freundin Clara Schumann wird zu Besuch kommen und eines ihrer Stücke spielen. Hier muss ich gestehen, dass ich diesen Besuch für unser Stück erfunden habe. Die beiden Frauen kannten und schätzten sich, begegneten sich im echten Leben aber erst 1847, wenige Monate vor Fannys Tod. Später lasse ich Fanny praktischerweise von einem visionären Traum erzählen, in dem ihr komponierende Frauen begegnen, die nach ihr leben werden. Auf diese Art können wir Ihnen einen umfassenden Überblick über weibliches Komponieren von ungefähr 1820 bis 2020 präsentieren. Auch wenn wir nicht viele Stücke von Fanny Hensel dabeihaben, werden Sie heute ausschliesslich Musik von Frauen hören.

Dabei freut es mich besonders, dass wir auch eine lebende Komponistin dabeihaben, die ihr Stück selbst aufführen wird: Panna, die in die Rolle der Clara Schumann schlüpfen wird, schreibt selbst wunderschöne Klavierstücke. Panna ist zweihundertzwei Jahre nach Fanny geboren. Als ich sie fragte, ob sie jemals darüber nachdenkt, ob sie als Mädchen komponieren kann oder darf, konnte ich feststellen, dass das überhaupt kein Thema für sie ist. Das macht mich natürlich glücklich. Wir sind weit gekommen, dürfen aber trotzdem nicht aufhören, uns für die Anerkennung und Gleichbehandlung von Frauen einzusetzen.

Doch jetzt begeben wir uns in Fannys Welt. Hier wird sie auch gleich an der Wand auftauchen, in einem Portrait, das ihr Mann von ihr angefertigt hat. Er hat sie oft idealisierend gezeichnet, mit Anklängen an die Antike, und sie schreibt einmal, dass sie sich wünscht, er würde sie „ohne Gemüse auf dem Kopf“ malen, aber hier sehen wir sie mit einem dekorativen Kranz aus Trauben.

Ich stelle mir vor, dass der 14. November 1838 ein grauer, nebliger Tag war in Berlin. Die idyllische Gartenwelt des elterlichen Palais wird von zarten Nebelschwaden eingehüllt, die kahlen Bäume sind nur schemenhaft zu erkennen. Innen, im Gartenhaus, herrschen Leben und Betriebsamkeit. Kerzen brennen und der Geburtstagskuchen duftet. Ein ständiger Strom von Gratulanten wird Fanny an diesem Tag besuchen, ob sie will oder nicht…

Meine Erdinger Klavierschüler. Grund grosser Freude und etlicher grauer Haare…

Zu viel

In Zeiten von Stress kann es helfen, sich in eskapistischer Manier in andere Welten oder Realitäten zu flüchten und die Gegenwart einfach ein paar Minuten zu ignorieren. Und wenn noch eine Deadline dazu kommt, ist es besonders verführerisch, Immobilienanzeigen in Atlanta oder Boston zu studieren, weil die Küchen oder begehbaren Schränke da so staunenswert sind. Und man sich der Illusion hingeben kann: wenn ich erst so einen Schrank mit Schuhregalen hätte, hätte ich viel weniger Druck im Leben.

Doch wie skurril ist es, wenn die bejammerte Gegenwart nicht aus Krieg, Flucht oder echter Existenzsangst besteht, sondern aus viel Klavierüben, Eintauchen ins Berlin der 1830er Jahre, Kostümrecherchen und morgendlichen Emily Dickinson-Gedichten? Zum Beispiel der Montag vor zwei Wochen: ich fing um 7 Uhr an, für neunzig Minuten zu üben, leise auf dem E-Piano wegen der Nachbarn, und ab halb zehn noch mal auf dem echten Klavier. Dann fuhr ich nach Erding zum Unterricht, der nahtlos in die erste Gesamtprobe unseres Fanny Hensel-Theaterstücks überging. Ich holte die letzten Requisiten aus dem Fundus, suchte passende Schuhe für die Mädchen, versuchte, mit Sicherheitsnadeln und ein paar schnellen Stichen die wunderhübschen Kleider, die wir für Fanny und Clara Schumann bestellt haben, passend zu machen, und sprach mit der Technik das Licht ab. Während der Probe ersetzte ich die abwesenden Klavierspielerinnen und tanzte in der Tanzszene Walzer mit meiner genialen Kollegin (ohne sie wäre ich aufgeschmissen). So einen abwechslungsreichen Tag anstrengend zu finden, ist Klagen auf allerhöchstem Niveau. Ich denke, viele Menschen, die einen wirklich monotonen Job haben verglichen mit meiner verrückten Sammlung an Betätigungen würden sich danach sehnen, sich in so netten Welten aufhalten zu dürfen wie ich. Aber ich bin so überfüttert an Schönheit und Besonderem, dass ich grösste Befriedigung dabei finde, die Badewanne spiegelblank zu putzen und alle Wasserspritzer vom Badspiegel zu entfernen, oder das letzte Laub aus dem Gartenteich zu fischen. Ich brauche Greifbares, Vorzeigbares in diesen Tagen, in denen ich mich so viel mit Unsichtbarem beschäftige, das dann auf Knopfdruck und vor Publikum perfekt auf der Welt erscheinen soll. Diese Wochen der Vorbereitung sind eigentlich das Stressige, und immer hat man die Angst im Nacken, dass es trotz allergrösster Sorgfalt dann im entscheidenden Moment nicht klappt. Ich hadere mal wieder damit, dass unsere Kunst wie Ballett öffentlich und einmalig entsteht. Wahrscheinlich haben Maler oder Bildhauer wieder ihre eigenen Probleme, warum sie gestresst sind, aber immerhin können sie ebenfalls hunderte Stunden lang an etwas arbeiten, es aber erst abliefern, wenn es – für den Moment – fertig ist.

In neun Tagen habe ich alle Termine hinter mir, aber ich kann schon jetzt sagen, dass diese drei Wochen die anstrengendste Zeit in meinem Leben waren, Abitur und Diplomprüfungen mit eingeschlossen. Die Prüfungen waren wirklich ein Klacks dagegen, weil man genügend freie Zeit hatte, sich vorzubereiten und alles in angenehme Häppchen zerlegt war. Natürlich sollte man spätestens dann die Schwimmflügelchen abgelegt haben, aber alles fand noch in einer Art geschütztem Raum statt. Jetzt bin ich so völlig im echten Leben angekommen, dass zu Recht erwartet wird, dass was Ordentliches abgeliefert wird. Nur dumm, wenn zu viele wichtige Termine aufeinandertreffen. Und man sich noch sechs Tage die Woche um seine Schüler kümmern muss (Das würde ich nächstes Mal anders machen, sollte ich je wieder eine solche Anhäufung von Ereignissen zulassen: ich kann nicht gleichzeitig unterrichten und Konzertpianistin sein. Ich hätte für zwei oder drei Wochen den Unterricht absagen sollen. Das fällt mir natürlich am Tag meines letzten Konzerts ein. Aber nächstes Mal…)

Zu dieser überfordernden Anhäufung von wichtigen und schönen Terminen kam es, weil unerwartet unser zwanzigjähriges Schuljubiläum mit grossem Brimborium gefeiert wurde und ich ausserdem nicht Nein sagen konnte zu einer Konzertanfrage. Es ist einfach zu verlockend, wenn man nach einem privaten Soloabend anlässlich eines runden Geburtstags gefragt wird. Das kommt viel zu selten vor, als dass ich hätte ablehnen können. Dass der Geburtstag genau in die heisse Phase der Proben für mein Stück über Fanny Hensel fallen würde, war etwas problematisch, aber wäre doch wohl zu bewältigen. Dachte ich im Herbst. Und sagte zu. Weil der Arbeitsaufwand enorm ist, organisierte ich mir noch zwei andere Auftrittsmöglichkeiten mit dem gleichen Programm. Der Jubilar wünschte sich Mendelssohns “Variations sérieuses”, die Krönung von Mendelssohns Solowerken für Klavier. Eine sehr seltene Bitte, die noch nie an mich herangetragen würde. Ich hatte die virtuosen Variationen zum Abitur gespielt und dachte, das würde sich doch wiederbeleben lassen. Überraschung: man ist keine zwanzig mehr… Die rein sportliche Anforderung der Sprünge und Arpeggien ist so kräftezehrend, dass ohne ordentliches Aufwärmen gar nichts mehr geht. Es macht demütig, derartig am eigenen Leib zu erkennen, wie anstrengend Klavierspielen sein kann. Es tut auch gut, sich wie eine eingerostete alte Fregatte zu fühlen und sich Strategien zu überlegen, ob und wie man dagegen wirken kann. Die vielen netten Übungen, die ich mir überlegt habe, kommen letztlich meinen Schülern zugute.

Heute spiele ich das Programm zum letzten Mal, in der Werkstatt meiner Klavierbauerin, auf einem feinen Steinway von 1986, der danach ausgeliefert wird. Ein Leckerbissen für mich, und ein verlässlicher Gefährte auf meiner verrückten Reise durch die Variationen, eine schöne Gruppe von “Liedern ohne Worte” von Fanny und Felix (nicht anstrengend) und Beethovens op. 31/3. Aber es ist bezeichnend, dass ich am Morgen des Konzerts nicht übe, sondern diesen Artikel schreibe. Immerhin gucke ich keine Immobilienanzeigen an.

Das Erhabene

Wenige Tage nach der Turnerausstellung nahm mich eine Geigenfreundin mit in einen Probennachmittag des Unichors. Sie spielte für die Aufführung von Mendelssohns “Paulus” im Orchester. Vier Stunden Paulus plus ein Mittagessen mit einer alten Freundin – da sagt man nicht nein. Natürlich hatte ich mir auch hier noch Inspiration und Ideen für meine Variationen erhofft, doch, wie das so ist mit den Musen, sie kamen unerwartet und aus einer anderen Ecke. Aber dafür im Übermass.

In der Turner – Ausstellung ging es immer wieder um das “Erhabene”, ein hehres, abstraktes Konzept, das zugegeben etwas schwer fasslich ist. Und in Turners Fall häufig verstörend oder leicht furchteinflössend wirkt, zumindest auf mich. Als ich mit meiner Freundin an einem ruhigen Samstag nachmittag im Hauptgebäude der Münchner Uni ankam, hat mich eine andere Art von Erhabenheit von allen Seiten her angeweht. Wir waren entspannt früh dort und schlenderten langsam durch das helle, leere Gebäude: hier eine Säulenhalle mit glänzendem Boden und klassischem Gewölbe. Dort der grandiose Lichthof in weiss und gold mit seinen Marmortreppen, Statuen und der hellen Kuppel. Der Gang über die ganze Länge der Fassade mit seinen Rundbögenfenstern und dem klassischen Rhythmus in Säulen und Gewölben. Und schliesslich die Aula, in der die Probe stattfand. Was für ein Vergnügen für mich: vier Stunden Mendelssohn live in einem Jugendstilsaal mit hervorragender Akustik! Und dem Blick auf die goldglänzenden Mosaike über der Bühne, in der Mitte Apollo im Sonnenwagen und so viel strahlendes Gold, dass das “Werde Licht!” des hervorragenden Chors eine ganz andere Bedeutung bekam! Hier war eine äusserst leicht zu verstehende, populärere und dekorativere Version des “Erhabenen”, die viel besser zu Mendelssohn passte als das schmerzhaft tiefe und kompromisslose Erhabene von Turner. Das Klackern von Absätzen auf dem Marmorboden eines langen leeren Ganges mag frivol sein – doch auf seine Art ist es auch erhaben, wenn es verknüpft ist mit dem zeitlosen Gefühl eines Samstagnachmittags, an dem man nur zum Vergnügen in solchen besonderen überdimensionierten Räumen wandeln darf.

Mendelssohns Erhabenheit ist viel lieblicher, ansprechender und leichter verständlich als Turners. Die wunderbaren Melodien voller Terzen und Sexten und immer wieder die alten Choräle, die durchschimmern und dem Gefüge einen verlässlichen und vorhersagbaren Rahmen geben, berühren mich unmittelbarer und auf eine ruhigere Art. Mendelssohn wird oft vorgeworfen, dass er rückständig sei und nicht viel Substanz hinter all dem Schönklang stecke, doch manchmal braucht man genau das. Als ich gestern das grau-schwarze Ausstellungsplakat der Turnerschau in meinem Unterrichtszimmer in Erding aufgehängt habe, hat mir das dunkle Meeresbild mehr Unbehagen als Freude gemacht. Das schiefliegende Schiff im Wirbel des Schneesturms, die graugrünen Wellen, die aus dem Bild herausschwappen wollen, die Orientierungslosigkeit und der Strudel des Meeres, der einen fast hineinziehen will, sind beeindruckend, aber auch beängstigend. Ich bin gespannt, wie und ob meine Schüler darüber reden wollen. Ich warte nur drauf, dass einer sagt: “ich fühle mich wie mitten in diesem Bild da”, denn Haltlosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind eine wiederkehrende pubertäre Konstante im Stimmungskanon meiner Kinderchen. Und gestern hat mich das Bild an die immer noch desolate Weltlage erinnert. Wie kann es sein, dass wir schon den zweiten Jahrestag der russischen Invasion haben und jetzt so viel Grauenhaftes im Gazastreifen passiert?

Manchmal braucht man düstere Kunst, um seine eigenen düsteren Gefühle hineinzulegen und geklärt auf der anderen Seite herauszukommen. Die “Variations sérieuses”, mit denen ich mich jetzt so lang beschäftigt habe, tragen ihren Titel zu Recht. Das d-moll stelle ich mir von den Farben her genau wie Turners Schneesturm vor. Deshalb bleibt das Bild hängen, auch wenn es dunkel ist. Der Effekt ist der gleiche, wie wenn ich eine todtraurige Tschaikowsky-Symphonie im Auto höre, vorzugsweise bei Nebel oder grauen Wolken. Danach geht’s mir gut, denn der ganze Kummer bleibt in der Musik. Andere durchleiden ihn für mich und ich komme mir vor wie frischgewaschene Wäsche.

Aber manchmal möchte man Helle und Leuchten, Gold und Glitzern und einen sextenumwobenen Bachchoral. Das bekam ich im Übermass an diesem erhebenden Probennachmittag. Im “Paulus” geht es so oft um Licht. Oder man denke an das wunderbare “Dann werden die Gerechten leuchten” aus dem “Elias”. Mendelssohn ist ein lichter, heller Komponist, und nach einem Bad in Wohlklang und hellen Farben geht es einem zugegeben auch nicht schlecht. Es ist der andere Weg zum psychischen Wohlbefinden und für manche vielleicht der bessere. Ich habe in den Ferien die ganze Kur erlebt, die ganze Bandbreite von grauschwarz zu gold, fühle mich wie neugeboren und bin voller Ideen für meine Mendelssohn – Stücke.

Foto: Guillaume de Laubier

Mache dich auf, werde Licht!

Zufällig erreichte mich im Herbst die Anfrage nach einem Hauskonzert, als ich mich in einer ausgesprochenen Mendelssohn – Phase befand. Ich hörte “Paulus” im Dauerlauf, weil ich von diesem Werk nie genug kriegen kann. Mein Stück über Fanny hatte ich grade fertig geschrieben, die Biographie von Francoise Tillard eingehend studiert und die von Peter Härtling begonnen und natürlich für mich die Klavierstücke von Fanny geübt, die ich meinen Schülerinnen geben wollte. Mendelssohn, wohin ich in meinem privaten Umfeld blickte – und dann kam dieser Anruf, und der Herr wünschte sich Mendelssohn. Genauer: die “Variations sérieuses”, ein wirklich selten gespieltes Werk, nach dem ich noch nie gefragt worden bin. Irgendeine wohlgesinnte Muse wollte wohl, dass ich mich noch tiefer in die Materie begebe. Wir machten aus, dass ich noch ein paar “Lieder ohne Worte” der beiden Geschwister spiele, und eine Beethoven – Sonate, um das ganze abzurunden. Mein Leben ist schön!

Aber arbeitsam. Ich musste mich vormittags in quasi klösterliche Klausur begeben, um dieses Pensum zu schaffen und auch körperlich fit zu werden für die etwas virtuosen Variationen. Immer unter Berücksichtigung meines fortgeschrittenen Alters… Leider kann man so was nicht mehr so unbeschwert oder unaufgewärmt runterfetzen wie zu Studienzeiten. Und der Muskelkater nimmt ganz andere Dimensionen und Hartnäckigkeiten an. Doch mit einem vernünftigen Übeprogramm und nötigerweise viel Disziplin habe ich mich über den Winter fit gemacht. Bis ich nach gefühlten hundert Stunden selber dachte: jetzt darf ich mich mal an die längere Leine lassen und Inspiration an anderen Orten suchen. Das Üben und Nachdenken abseits vom Klavier ist ab einem gewissen Stadium effektiver als noch eine halbe Stunde rhythmisierte Arpeggien. Genau wie das beste Schreiben oft nicht am Schreibtisch, sondern auf Spaziergängen stattfindet.

Ich erhoffte mir neue Einblicke und fächerübergreifende Inspiration von der Turner – Ausstellung im Lenbachhaus. Auf der Fahrt nach München hörte ich auch wieder “Paulus” – “Mache dich auf, werde Licht!” bekommt eine ganz andere Bedeutung, wenn man auf dem Weg zu diesen aussergewöhnlich leuchtenden und strahlenden Bildern ist. Mein düsteres Gondellied, die noch dunkleren und stürmischeren Variationen könnten ebenfalls eine Entsprechung in den gischtschäumenden unheilvollen Seebildern des Engländers haben. Die Ausstellung ist herzzerreissend schön, doch seltsamerweise habe ich für meinen Mendelssohn kaum Verbindungen gefunden. Nur weil man aus unserer Warte denkt, dass zwei Künstler ungefähre Zeitgenossen waren, heisst das nicht, dass sie wirklich viel miteinander zu tun haben. Und ich habe zum wiederholten Mal feststellen können, dass es verblüffend schwer ist, den Begriff, den Beginn der Romantik zu definieren. Er war viel früher, als ich immer dachte, und der Übergang ist ungefähr so unklar und schwer zu erkennen wie die berüchtigten Zwischenzustände von Elementen in Turners Gemälden: wo hört das Wasser auf? Wo beginnt die Luft? Sollten zwei weitgereiste Künstler, die 1841 Werke geschaffen haben, sich nicht ähnlicher sein?

Ich hatte übersehen, dass der 1775 geborene Turner wirklich eine Generation älter ist als Felix Mendelssohn. Und vom Geiste her nicht weiter entfernt sein könnte von ihm. Turner war revolutionär, wo Mendelssohn versöhnlich und bewahrend ist. Mendelssohn möchte Harmonie und Wohlgefallen, Turner ist es egal, was die Menschen über ihn denken. Die letzten Gemälde sind derartig radikal, dass ich nur noch sprachlos war. Der “Sonnenaufgang vom Rigi” mit seinen kaum angedeuteten, minimalistischen Farbtupfern könnte vorgestern entstanden sein und wäre immer noch modern. Diese fast leere Leinwand hat mich direkt erschüttert, weil sie so viel in mir bewegt und angeregt hat. Das ganze Bild ist in mir entstanden – und dieses Kopfkino ist doch immer das Beste, auch in der Literatur. Die Kunst der Auslassung erlaubt einem, eine viel persönlichere Beziehung zu einem Thema aufzubauen. Man denke nur an Liebesszenen im Film, vor denen die Kamera wegschwenkt – was einen im Moment frustriert und ärgert, bietet im Nachhinein ein viel grösseres Potential, als wenn einem jemand vorschreiben würde, was man sehen soll. Und während ich vor diesen wilden, harschen Bildern stand, auf denen man gar nichts erkennt, wenn man zu nahe dran ist, merkte ich: das hat nichts mit Mendelssohn zu tun. Aber ganz viel mit Beethoven. (Was mal wieder beweist, dass Beethoven den Übergang zur Romantik längst geschafft hat.) Diese kompromisslos wenigen Informationen, dieses undiplomatische Alleinlassen des Betrachters oder Zuhörers – das ist auch Beethovens Masche in den letzten Quartetten oder den Cellosonaten op.102. Sie sind selbst für die Ausführenden kaum verständlich in ihrer Reduziertheit und man braucht den Schritt zurück, den räumlichen Abstand wie bei Turners Gemälden. Und auf einmal blüht vor dem inneren Auge und Ohr etwas auf, von dem man nicht weiss, wie es in einen hineinkommen konnte. Und dann hat man diese Werke für immer in sich, weil es für jeden Menschen nur diese eine Art der Interpretation gibt. Die man auch niemand mitteilen kann. (Jetzt klinge ich so rätselhaft wie die letzten fragmentarischen Bilder…)

Bild: wikiart.org

Kristall

Wir hatten die zweistelligen Türchen im Adventskalender noch gar nicht erreicht und trotzdem fühlte ich mich überrollt von vorweihnachtlichen Aktivitäten und den damit zusammenhängenden Erfordernissen. Und täglich schien die Liste länger zu werden: ausser den englischen Weihnachtskuchen, die ich noch in einem Anfall von spätnovemberlichem Schwung gebacken hatte, war in der Küche noch nichts passiert. Meine handtellergrossen Lebkuchenherzen mit Monogramm drängten sich immer unangenehmer ins Bewusstsein, denn ich brauchte die ersten schon bald für die erste Weihnachtsfeier als Tischkarten. Das Backen und vor allem das Verzieren war immer so ein Aufwand, dass ich alle sechzig in einem Rutsch produzieren wollte. Mir war nur schleierhaft, wo ich dieses Jahr die drei, vier Stunden, die dafür nötig wären, nehmen sollte. Eine Erkältung hatte mich zur ungünstigsten Zeit lahmgelegt. Statt abends glücklich und entschleunigt im Schein des Lichterbogens in der Küche zu werkeln, schlief ich eher ungewollt auf dem Sofa ein. Und hatte nicht nur deswegen das Gefühl, allem etwas hinterherzurennen.

Bald waren auch unsere Adventskonzerte, und trotzdem übten ein paar meiner Schüler so entspannt, als wäre Weihnachten irgendwann im März. Ende März. Auch das beschäftigte mich unterschwellig. Sollte ich das Programm kürzen und alles, was nicht gern geübt wurde, rausnehmen? Oder wäre das pädagogisch kontraproduktiv? Garantiert. Also blieb nur Ermahnen, Ermuntern, nochmal geduldig Üben. Trotzdem tanzten gewisse Schülernamen und Titel durch meinen Kopf und ich überlegte, ob schon der traurige Zeitpunkt der Schadensbegrenzung gekommen sei oder ein plötzlicher Übeanfall uns noch retten könnte.

Und dann waren da noch die vielen anderen Listen, private Listen, was alles noch erledigt werden wollte vor den Feiertagen. Einkaufslisten. Backlisten. Adventsfrühstückslisten. Und irgendwann auch noch unser Hochzeitstag. Ich bin ein grosser und bekennender Weihnachtsfan, aber diese Post-Pandemie-Aktivitäten überforderten mich dieses Jahr. Deshalb tat ich auf dem Rückweg von der Arbeit das einzig Wahre, bog im Dunkeln nicht in unsere Siedlung oberhalb der Stadt ein, sondern beschloss, langsam die Serpentinen hinunter in die Altstadt zu fahren und feines vietnamesisches Essen zu holen. Es war Luxus, aber immerhin diese kleine Aufgabe würde ich heute an andere delegieren. Um den Rest musste ich mich selber kümmern, aber das Abendessen würden heute andere für uns zubereiten.

Als ich die Lichter der Staustufe auf dem Inn glitzern sah, wurde ich innerlich ruhiger. Es tat gut, von den üblichen Routinen abzuweichen. Ich war praktisch nie abends in der Altstadt. Wenn ich ganz ehrlich bin, war das Essenabholen nur ein willkommener Vorwand, um mir die Weihnachtsbeleuchtung aus der Nähe anzuschauen. Der Christbaum am Bahnhof, der erste weihnachtliche Blickfang, wenn man sich der Altstadt näherte, fiel dieses Jahr in Relation zum zur Verfügung stehenden öffentlichen Raum äusserst bescheiden, um nicht zu sagen mickrig aus, doch ab dann wurde es besser: die Gassen der Altstadt glitzerten und leuchteten im überbordenden Lichterglanz. In der Ledererzeile waren die Bäume anmutig mit Lichterketten behängt, über die Strasse zogen sich funkelnde Bänder. Die Herrengasse und die Fassade des Rathauses, die wie immer wunderhübsch mit Lichtern nachgezeichnet wurde, waren prachtvoll und erfüllten die wildesten Weihnachts-Deko-Phantasien. Ich war ausgesöhnt mit dem etwas kleinen Christbaum am Bahnhof.

Nachdem ich das Essen bestellt hatte – beschlagene Brille, der Schock, in ein lautes, helles Restaurant zu kommen nach dem stillen Weihnachtszauber draussen – beschloss ich, die Wartezeit für einen weiteren Spaziergang durch die leere Altstadt zu nutzen. Ich musst auch noch den ersten Stapel Weihnachtskarten einwerfen. Alle Geschäfte hatten geschlossen, waren aber liebevoll dekoriert. Auch wenn man sie nicht mehr betreten konnte, bekam man einen umfassenden Überblick über die angebotenen Sehnsuchtsobjekte. Und an vielen gab es noch mehr Extra – Lichterketten um die Schaufenster und Fassaden. Nach dem extremen Wintereinbruch am Wochenende war fast niemand unterwegs. Wasserburg war ein echtes Wintermärchen mit den Massen an Schnee, der wie Zuckerguss auf Lebkuchenhäusern über die Dächer, Vordächer und Laternen hing. Unsere Stadt ist unglaublich malerisch, zu jeder Jahreszeit, aber jetzt im Advent, und mit Schnee, und mit Funkellichtern, war es kaum auszuhalten. Ich merkte, wie ich mit jedem rutschigen Schritt ruhiger wurde, langsamer atmete und wunderbar ausgebremst wurde: auf dem eisigen Pflaster konnte ich nicht schnell gehen. Das Essen war erst in zwanzig Minuten fertig. Ich könnte einfach nur in Ruhe und Schönheit ganz im Hier und Jetzt sein.

Als ich vorher am Rathaus und den kleinen Hütten des Christkindlmarkts vorbeigelaufen war, hatte ich an unsere Hochzeit gedacht. Wir haben hier an einem 22. Dezember geheiratet. Ich war eine Winterbraut im dunkelgrünen Seidenkostüm mit einem Brautstrauss aus blutroter Amaryllis und Seidenkiefer. Mein liebstes Hochzeitsphoto zeigt uns, wie wir geduckt und lachend durch den Reisregen vor dem Standesamt gehen, vorbei an den kleinen Buden des Christkindlmarkts. Wer hat schon einen Weihnachtsmarkt auf dem Hochzeitsphoto? Der Termin erschien uns damals genau richtig, weil wir beide Weihnachten so mögen. Was wir nicht wirklich bedacht hatten, war, dass ein eventuell jährlich zu feiernder Hochzeitstag im Wirbel von anderen Weihnachtsfeiern eine Herausforderung werden würde. In guten Jahren sieht man uns, ich in meiner grünen Seidenjacke, bei einem Wasserburger Italiener sitzen. Wahrscheinlicher ist, dass sich der gute Gatte beim Heimkommen den Weg durch siebzehn Paar Winterstiefelchen und einen Berg Kinderjacken bahnen muss, weil der 22. auf den letzten Donnerstag vor Weihnachten fällt und da unweigerlich mein Adventskonzert ist. Es kam auch schon vor, dass an diesem Tag die Weihnachtsfeier des ambulanten OP – Zentrums, in dem der Gatte arbeitet, stattfand. Wir tafelten im umfunktionierten Aufwachraum. Die Gardinen zwischen den Betten waren zurückgeschoben und der lange Tisch phantasievoll geschmückt. Während wir mit Prosecco anstiessen und über die Koch- und Backkünste der Angestellten staunten, dachte ich, dass die Patienten vielleicht glücklicher aufwachen, wenn sie spüren, dass hier so viel gelacht und gelebt wurde.

Dieses Jahr war unser fünfzehnter Hochzeitstag, wie wir kürzlich mit Erstaunen und Erschrecken festgestellt hatten. Wie schnell das geht. Man sollte eigentlich was Besonderes machen, doch bisher war es bei dieser Feststellung geblieben. Konkrete Pläne fehlten noch. Beziehungsweise, wie immer zu dieser Zeit des Jahres – das heimische Sofa wirkte verführerischer als alle Alternativen. Aber vielleicht würden wir uns was Kleines zur Erinnerung kaufen? Wir waren nicht die Art Paar, die sich gegenseitig etwas schenkt, sondern wir kauften uns – gelegentlich, nicht jedes Jahr – was Nettes. Meistens etwas Weihnachtliches. Mein liebstes Erinnerungsstück ist ein Christbaumanhänger aus dem Nationalmuseum, ein niedliches kleines Schweinchen mit allerliebsten Hufen, dessen rosige Nacktheit durch eine Schicht weiss-goldenen Glitzer verdeckt wird. Mehr musste es nicht sein, denn, wie das so ist, wir haben alles. Und mehr als das.

Bei meinem gemächlichen Spaziergang durchs nächtliche Wasserburg war ich am Weberzipfel angekommen. Hier war mein Lieblings – Antiquitätenladen, der zu Weihnachten immer besonders schön dekoriert ist mit einem grossen Baum voller altem Christbaumschmuck. Ich würde mir kurz die Nase plattdrücken am Schaufenster, bevor ich zum Geldautomaten weiterging. Funkelndes Kristall und glänzendes Silber strahlten in dem kleinen Geschäft um die Wette, und dahinter stand der Christbaum mit Vögelchen, Fliegenpilzen und Nikolausfiguren. Was für ein heimeliger Anblick, und was für besonderer Schmuck. Wir hatten selbst mehr als genug Baumschmuck, geerbt und selbst gekauft, aber – vielleicht ein kleines Stück zum Hochzeitstag?

Am nächsten Adventssamstag betrat ich den kleinen Wunderladen und fragte nach dem Christbaumschmuck. Es stellte sich heraus, dass alles am dekorierten Baum unverkäuflich, weil sehr alt und selten war. Es hätte da eine grosse glitzernde Orangenscheibe gegeben, wie ich sie noch nie gesehen habe, aber, leider, Privatbesitz. Doch die Inhaberin zauberte mehrere Kisten mit altem Gablonzer Schmuck auf die Theke, der zum Verkauf stand. Jetzt war ich nicht das Kind im Schokoladenladen, sondern der Weihnachtsfan im siebten Himmel! Ganz vorsichtig nahm ich einzelne dünne, fragile Ornamente aus den Schachteln. Zielsicher hatte ich als erstes eine bronzefarbene lebensgrosse Walnuss ausgesucht. “Da haben Sie was ganz Seltenes entdeckt”, meinte die Inhaberin. Und in der Tat, ich bilde mir ein, so was noch nie gesehen zu haben. Dazu kam noch ein kleiner goldener Tannenzapfen, eine silberne Eichel und ein goldenes wippendes Vögelchen mit weisser Schwanzfeder, das so ganz anders aussah als die chinesische Massenproduktion: der Schnabel ist sehr individuell, und auch die Äuglein sind ganz fein herausgearbeitet. Ich schluckte kurz, als ich den Preis für die vier Teilchen hörte – dafür würde ich beim Möbelgiganten ungefähr drei prallgefüllte Kisten Christbaumkugeln bekommen. Aber es waren alte Einzelstücke, möglicherweise aus den Dreissiger Jahren. Es war ein Wunder, dass die hauchdünnen Objekte überhaupt so lange überlebt hatten. Und vielleicht ein schönes Symbol dafür, dass man sorgfältig mit seiner Ehe umgehen muss. Spontan kaufte ich noch eine zierliche Glas-Etagère, weil wir mal drüber gesprochen hatten, wie nett so was eigentlich wäre, nicht nur an Weihnachten, und schlidderte mit meinen kostbaren Einkäufen vorsichtig durch den Schneematsch nach Hause.

Im Moment liegen die drei Ornamente und zwei Mandarinen auf verschiedenen Stufen der Etagère. Der Vogel, oben an den runden Griff geklipst, wacht über die Schätze. Der minimalistische Anblick und die ruhigen Farben erfreuen mich. So zarte, feine Dinge können wir grade noch in unserem vollen Haus unterbringen.

Genau so spontan, wie ich die Etagère gekauft habe, habe ich gerade nachgeschaut, ob der 15. Hochzeitstag einen besonderen Namen hat. Es gibt doch papierene Hochzeit, oder Goldene Hochzeit… Kurz war ich erstaunt, als das Ergebnis auf meinem Bildschirm auftauchte, aber dann doch gar nicht: nach fünfzehn Jahren Ehe feiert man die Kristallhochzeit und schenkt sich Dinge aus Glas. Das ist kein Zufall. Das ist Weihnachtsmagie.

“Frau Sommerer kauft ein Winterbuch”

“Frau Sommerer kauft ein Winterbuch”, meinte meine Buchhändlerin im “Fabula”, als sie mir das bestellte Buch aushändigte. Ich konnte innerlich nur den Kopf schütteln – diese Blogartikel schreiben sich ohnehin von selbst, und jetzt bekommt man sogar noch den Titel gratis dazu geliefert. Was für ein schönes Leben ich doch habe!

Vor allem, weil ich so nette Winterbücher nicht nur kaufe, sondern auch mit viel Genuss lese. “Lieber Winter!”, das neue Buch von Franziska Lipp, klingt schon so einladend. Viel zu viele Menschen beklagen sich doch über die kalte, dunkle Jahreszeit und sehen sie nur als ungeliebte und mühsame Zwischenstation auf dem Weg zum nächsten Sommer. Dabei ist er eine Chance auf viel mehr:

“Der Winter wird als Einengung und Beschneidung empfunden, dabei ist er ein Geschenk. Ein Geschenk, das uns auffordert, einfach von allem weniger zu machen, Ruhe zu geben. Eine Art Winterruhe zu halten wie das Eichhörnchen oder der Dachs.” (S. 76)

Als Musikerin fällt mir als Gegensatz zum netten Titel “Ach bittrer Winter” ein, ein wunderschönes altes Lied, das aber hauptsächlich die negativen Seiten der Saison beleuchtet. Die Anrede “Lieber Winter!” hingegen lässt schon ahnen, dass sich hier ein Winterfan mit den manchmal vernachlässigten angenehmen Begleiterscheinungen der frostigen Zeit beschäftigt. Das Cover – grau mit weissen Schneeflocken – ist clean und minimalistisch gestaltet und zeigt, dass der Winter mehr ist als das überbordende Funkeln von Weihnachten. Gerade zum Jahresanfang sehnt man sich nach Klarheit und aufgeräumten Verhältnissen, und die spiegelt das Buch schon optisch wieder.

Doch vor dem Aufräumen und Entschlacken kommt das zur-Ruhe-Kommen. Das Buch beginnt bereits im Herbst mit den ersten Feiertagen wie Allerheiligen, Sankt Martin oder dem Cäcilientag. Der Abschnitt über den Herbst trägt den wunderschönen Titel “Heimkehr”. Ich mag den November und seine immer kürzer werdenden Tage, und Franziska lädt dazu ein, sich in den Rhythmus der Natur zu begeben und zu Hause ruhig zu werden. Sich zu entschleunigen und Kraft zu sammeln, statt in Aktionismus zu verfallen. Akzeptieren, dass alles ein Ende hat. Sie scheut selbst vor den ganz dunklen Aspekten nicht zurück, denn wie oft verwenden wir die Jahreszeiten nicht als Symbol für die einzelnen Stationen im Leben? Der Winter kann auch mit dem letzten langen Schlaf verglichen werden. Ich habe Hochachtung davor, wie sensibel sie diesen Aspekt anspricht, den man doch lieber aus seinem Leben verdrängt. Aber irgendwann müssen wir uns mit dem ultimativen zur-Ruhe-Kommen auseinandersetzen, und es tut gut zu sehen, dass man nicht die einzige ist, die sich gelegentlich Gedanken darüber macht.

Im Adventsabschnitt gefällt mir besonders das Kapitel über die Heilige Barbara, ihre Beharrlichkeit und Franziskas kursiv gedruckter “Arbeitsauftrag”: “Welche Wege beschreite ich beharrlich? Wie gut kann ich mich gegen Fremdbestimmung widersetzen und sei es nur, um meine Adventszeit so zu gestalten, wie ich es möchte?” Da fühle ich mich ertappt beziehungsweise spüre einen Finger in einer alten Wunde. Wie oft will man es nicht allen recht machen und vernachlässigt dabei sich selbst? Ich wünsche mir seit Jahren eine wirklich entspannte Adventszeit mit viel, viel weniger Sozialkontakten, als wir haben. Einen “bescheidenen Advent”, wie es Franziska nennt. So nett die Einladungen sind, aber die freie Zeit an den Wochenenden ist bei uns beiden sehr begrenzt. Manchmal würden wir lieber einfach nur zuhause bleiben. Die Pandemie hat mir gezeigt, wie schön ein ruhiger, langsamer Advent sein kann. Ich weiss nicht, wie man das in diesen wirbeligen Nach-Lockdown-Zeiten hinbekommen soll, ohne alle möglichen Leute vor den Kopf zu stossen. Vielleicht finde ich die Erlaubnis und den Mut dazu in Franziskas einfachen, weisen Worten.

Dass Franziska als Journalistin solide recherchiert und klar schreiben kann, muss nicht extra erwähnt werden. Was ihr Buch aber besonders macht, ist die feine Einbindung von Persönlicherem, Poetischerem. Es ist eben kein Sachbuch, sondern ein Herzensprojekt, und sie scheut sich nicht, sehr private Erinnerungen an Brauchtümer ihrer Salzburger Heimat und an ihre Kindheit mit den Lesern zu teilen. Besonders gefällt mir, dass, auch anders als im reinen Sachbuch, jedes Kapitel nach dem informativen Titel wie Sankt Martin, Heiligabend, Blaue Stunde oder Weihrauch einen Untertitel hat, der darüber hinaus reicht und die Gefühlsebene anspricht: Mitgefühl, Hingabe, Liebe. (Die Liebe am Heiligabend geht wunderbarerweise durch den Magen. In Form von Buchteln.) Diese innige und echte Art von Emotionen ist meilenweit entfernt vom verkitschten angeblichen “Fest der Liebe”, das von der Werbeindustrie usurpiert wurde, und hat mich mehr als einmal bei der Lektüre sehr berührt und nachdenklich gemacht. Und auch das ist ein unerwarteter und spannender Effekt des Buchs: dass man in Kontakt mit sich selbst kommt, verborgene Regungen wieder- oder neuentdeckt und sich auf andere Art dem Sinn hinter dem Ganzen nähert.

Meine Lieblingskapitel sind “Erster Schnee” und, ganz besonders, der lyrische Beginn von “Raureif”:

“Es ist ein verzauberter und eisig kalter Morgen. Dicker, wildgezackter Raureif hat sich mit feinen, klirrenden Nadeln über die Wiesen und Hecken gelegt. Jeder einzelne Ast der Birke ist umhüllt von einer zerbrechlichen Eisschicht, die die Strahlen der Morgensonne einfängt und bricht. Jedes Blatt und jeder Grashalm wurde mit einem glitzernden Silberrand versehen.” (S. 90)

Wer kann da noch eine Reise nach Mauritius buchen wollen, wenn wir in solch einer Zauberwelt leben dürfen?

Unerwartet erwies sich auch das Winterbuch mit seinen kleinen Nachfragen und Anregungen als Anstifter zu allerlei Aktivitäten. Franziskas “Lieblingsplätze im Salzburger Land” hat mich damals dazu gebracht, die Landkarte rauszukramen und an Wochenenden wunderbare Ausflüge zu machen. Das neue Buch hat uns am Tag mit dem Extremschnee, als wir kaum Frisches im Haus hatten, ein richtiges Kinderabendessen aus Griessnockerlsuppe und Buchteln beschert, deren Rezept abgedruckt ist. Und ich habe die heilsame Entschleunigung des Hefeteigs besonders genossen, weil draussen tonnenweise Schnee fiel und ich wusste: ich kann jetzt nirgendwo hin. Ich muss jetzt nirgendwo hin.

Die wohl wunderlichste Entdeckung, zu der mir das Buch verholfen hat, geschah ausgerechnet am Vorabend des sogenannten Volkstrauertags, des Tages, an dem gefallener Soldaten gedacht wird. Jetzt wird ein Exkurs nötig, der nichts mit dem Winterbuch zu tun hat: der römische Cousin des Gatten ist seit zwei Jahren auf der Suche nach einem Vorfahren, von dem sie nur vage wissen, dass er gelebt hat und im ersten Weltkrieg umkam. Nicht mal der Name ist bekannt, noch weniger irgendwelche Daten. Wie Franziska auch schreibt, Familie ist nicht immer leicht. Hier kam zu möglichen Animositäten noch die Auswanderungsgeschichte der Mutter des römischen Cousins, die Bamberg in den Fünfzigerjahren so gründlich hinter sich liess, dass sie auch die Erinnerungen daran tilgen wollte und ihren Kindern nicht mal deutsch beibrachte, was sie ihr bis heute vorwerfen. Ihr Verlust ist mein Gewinn: ich habe mich gezwungen, die ganze Korrespondenz mit Ferdinando auf italienisch zu führen. Das waren hardcore – Italienischstunden, nicht zu vergleichen mit den harmlosen Grammatikübungen meiner App! Live würde ich das nie schaffen, aber mit Wörterbuch und Zeit zum Nachdenken erfuhr ich eben, dass Ferdinandos Seele keine Ruhe hat, so lange er den Namen dieses vierten Grossonkels nicht weiss. Er ist schon zwei Mal mit einem seiner Söhne von Rom in die andere Stadt mit sieben Hügeln gefahren, um vor Ort vielleicht etwas zu finden. Die beiden haben Friedhöfe abgesucht und jede Säule, die an Gefallene des Ersten Weltkriegs erinnert, studiert, aber nichts gefunden. (Ich kann sie mir vorstellen, die beiden redegewandten, genussfreudigen, agilen Römer, die im ländlichen Franken mit französisch und englisch nicht weiterkommen und ausserhalb Italiens sicher auch keinen Pecorino gefunden haben – ein anderer Kummer, er sich durch Ferdinandos Leben zieht, wenn man ihm glauben darf…). Daraufhin wurde ich eingeschaltet, weil eine deutschsprachige Hilfe vonnöten war, und habe immer wieder in kleinen Pfarrämtern, die einmal die Woche zwei Stunden geöffnet haben, angerufen. Im November waren wir eigentlich schon ziemlich weit – ich hatte jetzt das richtige Pfarramt und eine halb willige Sekretärin. Wir hatten festgestellt, dass die Taufbücher des entsprechenden Zeitraums noch nicht im Archiv des Erzbistums in Bamberg, sondern noch vor Ort in dem kleinen Dorf waren. Als sie mir live sagte, dass sie mal nachschauen würde, und, ja, in der Tat, hier sei noch das Taufbuch bis 1895, wollte ich fast schreien: “dann machen Sie’s doch um Himmels willen mal auf! Ich spende auch was!” Aber – nix da. Nächste Woche war sie in Urlaub, und dann gab es eine EDV-Umstellung, die sie auch daran hindern würde, in das Buch zu schauen. Ferdinando hatte angefangen, mich nur noch “Signora Palfi” zu nennen nach einer Detektivin einer Bamberger Krimiserie, und versuchte, mich zu beruhigen. Genau diese Art Bürokratie würde es auch in Italien geben. Wir sollten höflich und geduldig bleiben, nachdem wir Mister X, wie wir den Vorfahr nannten, schon so dicht auf der Spur waren. Doch diese letzte lächerliche Hürde raubte jetzt mir die Seelenruhe. Ich war tatsächlich nahe dran, einen herbstlichen Ausflug nach Franken zu unternehmen, konnte aber zu Öffnungszeiten des Pfarramts nicht wegfahren.

Jetzt gehen wir wieder ins Winterbuch: auf Seite 147 erwähnt Franziska digitalisierte Taufbücher, falls man sich lange Winterabende mit Familienforschung verschönern will. Ich spitzte sofort die Ohren, und obwohl es schon fast Bettgehzeit war, fuhr ich den Computer noch mal hoch und gab die Adresse data.matricula-online.eu/de ein. Fand das kleine fränkische Dorf und das Taufbuch bis 1895. Mir ging die Düse, denn wir wussten, dass ein Bruder 1893, der andere 1898 geboren war. Es war gut möglich, dass Mister X 1896 das Licht der Welt erblickt hatte und ich wieder gegen eine Mauer rennen würde. Ich bekam wirklich feuchte Hände, als ich vom letzten Eintrag her anfing und die allerletzte verfügbare Seite aufschlug. Ein dicker Balken, unter dem in schnörkeligen riesigen Buchstaben das Jahr 1895 gekennzeichnet wurde. Über dem Balken das letzte Baby des Jahres 1894, geboren am 27. Dezember. Ich glaubte meinen Augen nicht, als ich den richtigen Namen “Schlegel” las. Vater und Mutter stimmten auch, und unser Mister X, der arme Frühverstorbene, heisst Joseph Thomas. Ich guckte in die flackernde Kerze neben meinem Computer. Das konnte nicht wahr sein. Und doch war es so naheliegend: fast jeder in dieser Familie wurde auf “Joseph” getauft, auch mein Mann mit zweitem Namen, sein Vater ebenfalls, und Ferdinandos Mutter – Überraschung! – heisst Josephine. Beim zweiten Hinschauen sah ich auch die Todesdaten, in ebenso feiner dünner Schnörkelschrift angefügt: gestorben am 24.11. 1914 in Russland. Noch nicht zwanzig. Und nach wenigen Generationen schon von der Familie vergessen. So sehr ich mich gerade gefreut hatte, so nachdenklich stimmte mich das auch. Aber war es nicht seltsam, dass ich wenige Tage vor dem Todestag die Daten gefunden hatte? Und wir die Chance darauf hatten, am 24.11. eine Kerze für den armen jungen Mann anzuzünden?

Zu dieser späten Stunde reichte mein Italienisch gerade noch zu einer Mail mit “Ecco!” und dem Link zum Taufbuch. Aber ich wusste, dass ich damit jemand in Ostia sehr glücklich mache.

Früher im Buch spricht Franziska über Engel und Schutzengel. Offensichtlich ist sie selbst einer, weil sie uns mit diesem Hinweis eins der schönsten Weihnachtsgeschenke beschert hat.

Und apropos Weihnachtsgeschenk: “Lieber Winter!”, im Anton Pustet Verlag erschienen, wäre ein sehr schönes!

Ein Stückchen Neapel in Freising

Vor Jahren waren der Gatte und ich im Juni in Neapel. Es ist so heiss, wie man es sich vorstellt. Wir verschmachteten fast, wollten aber trotzdem so viel wie möglich von der Stadt an der azurblauen Bucht sehen und schleppten uns, immer auf der Schattenseite, durch die Strassen. Als wir das erste Mal in einer dämmrigen Kirche einer aufgestellten Krippe begegneten, dachte ich, jetzt habe ich endgültig einen Hitzschlag. Doch auch ohne Sonnenbrille und mit adaptierten Pupillen blieb es – eine Krippe, komplett mit allem, was man sich wünschen kann. Engel, Hirten, Kindlein und Komet. Sorgfältig und liebevoll inszeniert, wie wir es nur von Weihnachten kennen. In der italienischen Hitze, im Sommerkleid, und mit der Aussicht darauf, zurück in Sperlonga noch mal ins Meer zu springen, wirkte die friedliche Geburtsszene völlig fehl am Platz. Und gehört doch so eng zu Neapel wie der Kegel des Vesuvs oder die Mosaiken von Pompei, wie wir erfuhren. Denn es sollte nicht die einzige Krippe sein, der wir auf unserem Rundgang begegneten. Aufwändige, viel bevölkerte Weihnachtskrippen haben eine lange Tradition in Neapel, die bis ins 15. Jahrhundert zurückgeht. Charakteristisch ist, dass ganze Szenen des neapolitanischen Strassenlebens dargestellt werden, mit allem Alltäglichen, was dazugehört. Da es in der Umgebung Neapels viele Tuffsteinhöhlen gibt, entstand hier auch der Typus der Höhlenkrippe. (Endlich weiss ich, wie man unsere Familienkrippe richtig bezeichnet!)

Je länger wir durch die flirrende Hitze schlichen und zwischen Caffè freddo und Gelateria pflichtschuldig noch ein paar Kirchen einschoben, desto mehr wurde unsere Reaktion auf die nächste Krippe: “Nein! Nicht noch eine!” Es passt einfach wenig zum Sommerurlaub im Süden.

Hier hingegen, in unseren nördlichen, kurzen Wintertagen, haben wir uns extra ins Auto gesetzt, um noch eine Krippe zu sehen. Und noch eine, und noch eine… Die bekannte Krippenausstellung im Freisinger Diözesanmuseum hat nach der langen Renovierung endlich wieder geöffnet. Dank meiner ehemaligen Gambenlehrerin, die mit dem Ensemble um Christoph Eglhuber die Feier musikalisch umrahmte, kamen wir auf die Liste der geladenen Gäste und pilgerten am ersten Schneetag hier, bei eisigem Wind und treibenden Flocken, hinauf auf den Domberg. Das Wetter hätte nicht besser sein können für unser Vorhaben. Viel besser als in Neapel, auf jeden Fall! Nach den Eröffnungsreden durften wir uns zu Glühwein und Lebkuchen auf die Terrasse begeben (der Museumsdirektor ermahnte uns: “Dass ihr mir ja net reinkommts mit dem Glühwein, die Flecken krieg ma nie mehr aus dem weissen Marmor!”). Der Schnee rieselte im Licht der Scheinwerfer, der Glühwein war heiss und lecker, und es war einfach nur wie im Hollywoodfilm. Krippenausstellung. Und erster Schnee. Und erster Glühwein. Jetzt passte alles.

Und wir waren noch ganz erfüllt von der feierlichen Eröffnung im hohen Lichthof des Museums. Das Schönste war natürlich die sagenhafte Musik, echtes neapolitanisches Barock von Cristoforo Caresana, das Christoph Eglhuber wiederentdeckt und transkribiert hat. Bei einigen Stücken meinte er, dass sie möglicherweise seit ihrer Erstaufführung in Bibliotheken geschlummert haben. Wir hörten drei etwa 20-minütige Weihnachtsoratorien, gespielt von seinem erlesenen Ensemble auf Barockinstrumenten und sechs wunderbaren Gesangssolisten. Ich hatte noch nie vorher von Caresana gehört. Für mich klang es wie Monteverdi, vor allem, wenn die Truhenorgel und die Theorbe den tiefen Bass als Gott der Unterwelt begleiteten. Diese neapolitanische Weihnachtsmusik entspricht überhaupt nicht unseren Erwartungen, da sie hauptsächlich Tanzmusik ist. Wir hörten mehr als eine schmissige, fetzige Tarantella, und alles so leicht und spielfreudig musiziert, dass es schwer fiel, ruhig sitzen zu bleiben. Das war eine wirkliche Entdeckung für mich, und ich hoffe, dass ich diese Stücke und dieses Ensemble irgendwann wieder hören darf.

Der gesprochene Teil der Eröffnung war wider Erwarten kurzweilig und unterhaltsam. Nach dem agilen und umtriebigen Museumsleiter, Christoph Kürzeder, erzählte Kardinal Marx von seinen vier Krippen daheim und erläuterte dabei die verschiedenen Formen, die es gibt: die schon erwähnte Höhlenkrippe, den Stall, der vor allem im alpenländischen Raum beliebt ist, den (verfallende) Palast und die Krippe mitten in einer orientalischen Stadt. Als wichtigste Botschaft der Krippe hob er die Mutter mit dem Kind hervor: das Symbol des Friedens schlechthin, nach dem wir uns nicht nur jetzt besonders sehnen. Auch Innenminister Herrmann hielt sich kurz: für ihn war die Familienkrippe die einzige Gelegenheit, kirchlichen Symbolen nahezukommen und mit ihnen auch spielen zu dürfen. Schon früh kümmerte er sich um die Elektrifizierung der Krippe. Wenn er nicht damit beschäftigt war, die vom Familienhund neu arrangierte Schafherde wieder aufzustellen. Für ihn ist die Botschaft der Krippe “Nächstenliebe”. Für beide Redner war der Applaus gross, wahrscheinlich vor allem deshalb, weil sich alle auf unter fünf Minuten beschränkten und uns so Gelegenheit gaben, das gigantische nagelneue Museum zu erkunden. Etwas Klatsch am Rande darf sein: an diesem Abend erfuhr ich auch, dass das Erzbistum München-Freising die reichste Diözese Deutschlands ist und an zweiter Stelle nach dem Vatikan kommt, was den Besitz an Kunstgegenständen betrifft. Wer hätte das gedacht?

Allen, die das neue Diözesanmuseum noch nicht kennen, kann ich es nur wärmstens ans Herz legen. Ich denke, es ist das schickste und eleganteste Museum, das es gerade in Bayern gibt. Hoch auf dem Domberg, mit einer tollen Aussicht, fühlt man sich wirklich in anderen Sphären, bevor man überhaupt in Berührung mit den Kunstwerken gekommen ist. Allein der Eingangsbereich: die oft vernachlässigte Notwendigkeit von banalen Schliessfächern wurde hier ins Rampenlicht gestellt. Die Fächer sind in etwa bauchhohen hellen Holzschränken mit meterlangen Auflageflächen untergebracht, die ebenfalls meterhohe extravagante Gebinde von roten Amaryllis zierten. Allein wegen des weihnachtlichen Blumenschmucks sollte man bald wieder nach Freising pilgern, und für die Krippenausstellung, die noch bis Lichtmess zu sehen ist, ist keine Anfahrt zu weit.

Einigeln

Jetzt dehnen sich die Tage wunderbar am Anfang und Ende in die Nacht hinein, und ich bin dankbar dafür. Dankbar für die Dunkelheit vor den Fenstern, die alles magisch und geheimnisvoller macht, aber natürlich auch dankbar dafür, dass ich diesen jahreszeitlichen Wechsel aus einem geheizten, beleuchtbaren Haus heraus beobachten und geniessen kann. Wobei ich besonders morgens nie das Maximum an Beleuchtbarkeit anwerfe, sondern langsam, allmählich sanftes Licht andrehe. In der Küche nur das kleine Lämpchen im Fenster, während ich den Wasserkocher anschalte. Damit ich die kleinen Geisterchen vor dem Fenster nicht zu sehr erschrecke: manchmal ein Reh, immer der schwarze Kater der Nachbarn mit seinen Vampirzähnchen. Während der Tee zieht, zünde ich eine Kerze am Schreibtisch an. Für mich passiert das beste Schreiben im Winter vor der Morgendämmerung. Sie ist ein natürliches Signal, dass ich langsam zum Ende kommen muss, und ein erstaunlich guter Ansporn. Wobei ich nichts gegen die allmähliche Verlängerung dieses Weckrufs habe, wenn die Tage jetzt – endlich! – noch kürzer werden.

Unser Übergang vom ungewöhnlich warmen, leuchtenden goldenen Oktober in die willkommene längere Dunkelheit war dieses Jahr besonders markant und unvergesslich, weil wir noch mal Richtung Süden fahren mussten. Unmerklich ist es passiert, dass ich mein Herz an Udine verloren haben. Und es auch bei diesem Besuch nicht wiederbekommen habe, im Gegenteil. Der Halloween-Abend auf der Piazza Matteotti wird noch lange in meinem Gedächtnis bleiben. Die sich langsam herabsenkende blaue Dämmerung, vor der die beleuchteten Häuser noch malerischer wirkten. San Giacomo, das übereifrig und mit sichtbar aus dem Turm tanzenden Glocken 17 Uhr schlug. Kleine Gruppen von schwarz gekleideten Kinderchen mit spitzen Hüten, die friedlich um uns und über die Piazza herumscharwenzelten. Unglaublich viel Leben und Licht in der Dunkelheit, und so mildes Wetter, dass wir problemlos mit unserem Aperitivo draussen sitzen konnten. Aber in dem Wissen, dass dies nun wirklich der Abgesang des Sommers ist. Was mich nur mit Vorfreude auf die gemütlichere Jahreszeit erfüllt.

Genau wie der Besuch im windumtosten Schloss von Duino. Der Herbststurm rüttelte arg an den alten Fensterläden. Rilkes “uraltes Wehn vom Meer” war einem orkanartigen Sturm gewichen, der den Nahverkehr im Friaul lahmlegte und zu Schulschliessungen führte. Ausgerechnet hier oben, hoch auf der Klippe und ganz an ihrer Spitze, mit wilden Brechern unten am Meer und pfeifendem Wind oben, fühlte ich mich geborgen und sicher. Einmal, weil das Schloss in seiner langen Geschichte sicher etliche Herbststürme überstanden hat. Und dann, weil die Ausstellungsräume so nett mit Dutzenden von Tischlampen beleuchtet waren. Es gibt etliche Zimmer mit Originalmöbeln, und glücklicherweise wurde auf grelles Licht verzichtet. Stattdessen sind die ebenfalls originalen kleinen Tischlampen in Gebrauch. Fast jede Ecke wirkt wie ein Stilleben. Überall möchte man sich auf die Samtsofas setzen, die Beine unter sich ziehen und warten, ob sich jemand an den alten Flügel setzt. Oder ein Buch aus der grandiosen Bibliothek holen und den Rest des Tages neben einer Leselampe verbringen. Es war genial, im Süden so ein winterlich gemütliches Schloss zu finden. Die Sorgfalt der Einrichtung hat mich inspiriert, bei uns zu Hause auch solche einladenden, kleinen Winkel zu kreieren und die Deckenlampen weitgehend aus zu lassen. Statt über die Dunkelheit zu lamentieren, ist es einfacher, sie mit offenen Armen willkommen zu heissen und ihr alle guten Seiten abzugewinnen.

Und November ist erst der Auftakt! Jetzt dürfen wir uns auf die ganzen gemütlichen langen Abende freuen! Ich hatte mir dieses Jahr schon für November im Kalender notiert, mit meinen Weihnachtskarten nach Amerika und Japan zu beginnen, weil ich regelmässig die Zeit dafür unterschätze. Und ich spüre auch schon die Lust darauf, die Schachtel mit den schönen Karten hervorzukramen, ergänzt, wie jedes Jahr, durch neue Unicef-Karten, und langsam, Stück für Stück, abends an unserem Esstisch eine zu schreiben, wenn das Tagwerk vollbracht ist. Mit leiser Musik im Hintergrund – spätestens jetzt darf man endlich mit Weihnachts – CDs anfangen, oder? – und einem Becher Tee neben mir. So kann ich jedem die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die er oder sie verdient und habe doch im Lauf der Tage einen schönen Stapel Weihnachtsbriefe fertig.

Buss- und Bettag ist für mich das Startsignal zum Früchtekuchenbacken. Die Kinderchen haben ja schulfrei, wir Lehrer haben den sogenannten “pädagogischen Nachmittag”. Je nachdem, wie ausufernd der ausfällt, schaffe ich es vielleicht direkt an diesem Tag, mit den gehaltvollen englischen Gebilden anzufangen. Meistens wird es doch das Wochenende danach, aber auch das reicht noch von der Zeit her, um alles schön einige Wochen lang mit Hochprozentigem zu tränken. Besonders gut sind die Novemberabende, wenn ich nach einer Weihnachtskarte noch Trockenfrüchte kleinschnippele und mit Rum übergiesse. Bei der gleichen Kerze und der gleichen Weihnachts-CD. Das ist die Art von langsamen, ruhigen Abenden, an denen ich meine Batterien aufladen kann und glücklich ins Bett sinke.

Die nächste wichtige Angelegenheit hängt vom Termin der Praxis-Weihnachtsfeier ab. Ist sie früh im Advent, muss ich schon bald anfangen mit meinen Lebkuchenherzen mit Initialen, denn sie sind seit Jahren die Tischkarten fürs Personal. Meine Schüler – Adventsfeier, für die ich Dutzende von Herzen brauche, ist immer erst in der Woche vor Weihnachten. Aber der Aufwand und die Kleckserei ist beträchtlich, deshalb wird in einem Schwung gebacken. Dann sind aber auch Küche und Esstisch völlig belegt mit Herzen, die schön beschriftet werden wollen. Auch an diesen Tagen gehe ich glücklich ins Bett, umweht von Zimt- und Nelkenduft, der durchs ganze Haus schleicht.

Falls ich dank glücklicher Termine etwas später mit den Herzen anfangen kann, kommt als nächstes das Adventskranzbinden. Und, wenn man schon dabei ist, wird auch gleich der Türkranz produziert. Harzige, zerstochene Finger und duftendes Wintergrün erinnern mich den Rest des Tages an unsere Bastelaktion und machen mich zufriedener, als wenn ich dieses wichtige Symbol von Wiederkehr und Ewigkeit im Laden gekauft hätte. Denn, so gerne ich die Dunkelheit auch habe, der Kranz und seine Kerzen erinnern uns daran, dass das Licht wiederkehren wird. Ich würde gern auf diesen Schlusssatz verzichten und frage mich, wann endlich ein Jahr kommen wird, in dem es möglich sein wird, aber: nach der Pandemie, nach dem Beginn des Ukrainekriegs und jetzt im auflodernden Nahost-Konflikt braucht man Zeichen der Hoffnung, und seien es nur ein paar Kerzen auf Tannengrün. Dieses Jahr soll der Kranz ein bewusstes Friedenslicht sein. Irgendwann, hoffentlich bald, nur wieder ein altes und geliebtes Symbol, dass alles wieder aufwärts geht und heller werden wird. Dass wir auf die Hoffnung in unseren Herzen zählen dürfen.

P.S: Schon wieder ein Artikel, den ich gleichzeitig unter “Italien” und “Zuhause” ablege. Mein Leben ist gut.